Wie kann ich
Heimat sagen
zum Land, auf das
mein Schatten fällt?
(aus „Wo bleiben wir?“, Gerhard Gundermann, 1955-1998)
Pfingstsonnabend in Berlin, es ist nicht mehr kalt,
endlich, und es regnet. In der Wohnung ist es still, die Mitbewohnerin hatte
Nachtdienst, die Katze ist auch nicht in Sicht. Drei Stockwerke unter dem
Fenster liegt weniger still die Brunnenstraße.
In der alten Zeit war sie still, immer – die Leute, die
schon so lange hier wohnen, erinnern sich daran – denn keine 500m von hier war
dieser Teil der Welt zu Ende. Heute ist da die U-Bahnstation Bernauer Straße
und man kann einfach weiter gehen oder fahren, unter der Erde oder oben, immer weiter bis zum Humboldthain und zum
Bahnhof Gesundbrunnen und noch weiter, Bäume, Wohnhäuser, türkische
Infrastruktur.
An der Bernauer Straße erinnert ein Metallstreifen im
Boden an den Verlauf der Mauer und Bilder und Schautafeln an den Häusern auf
dieser Seite an ihre Geschichte und ihre Opfer. Wer es nicht weiß oder schon
lange täglich diesen Weg nimmt, wird es vielleicht trotzdem nicht bemerken, vor
allem wenn man von Osten nach Westen geht, historisch gesehen, geographisch
trifft von Süden nach Norden es eher. Der eigene Standpunkt entscheidet sich
nicht erst durch die Verortung in einem Bezugssystem, sondern schon durch die
Wahl desselben.
Ich schließe das Fenster gegen den anschwellenden
Verkehrslärm. Stille. Das wunderbare große Altbauzimmer, in dem fast nichts mir
gehört, ist mein Zuhause für diesen Monat, nach vielen kürzeren Besuchen in
vielen Teilen Berlins bin ich nun den ganzen Mai hier. Mein erstes klinisches
Praktikum. Die psychiatrische Ambulanz in einer Außenstelle der Charité hat
zunächst meine in den letzten Monaten entstandenen Zweifel an meiner
Entscheidung für die Psychiatrie bestärkt und sie dann zerstreut. Fachliche
Heimat, gefunden. In einem Fach, in dem wir nach meinem Verständnis mit
Patienten arbeiten, die sich in der Welt, ihrem Leben, sich selbst oft nicht
gut heimisch fühlen können.
Ein Heimatgefühl in dieser Stadt habe ich noch nicht so
richtig. Mein Vater wurde hier geboren, in der Charité. 1954 sind sie gegangen,
ohne Erlaubnis, aber bevor die Mauer stand ging das noch, mit der ganzen
Familie und leichtem Gepäck. Zuhause fühle ich mich aber, auch ohne eigene
Bilder an den Wänden. Als ich vor sechs Jahren zum ersten Mal für ein Praktikum
für ein paar Monate wegging in eine neue Stadt, nahm ich noch Photos und
Postkarten mit. Mittlerweile habe ich gemerkt, dass genug heimatliche Scholle
an meinen Füßen klebt, um ohne äußerliche Requisiten überall zu Hause zu sein,
spätestens am zweiten Abend. Ich kann mich bewegen, weil ich weiß, wo ich
herkomm und wohin ich auch immer zurückkehren kann. Eine echte Nomadin bin ich
nicht, denn meine Heimat ist ein Ort, oder mittlerweile auch zwei oder drei.
Heimat, dieses schwierige, immer noch leicht vergiftete
deutsche Wort. Auf Lettisch heißt es dzimtene, ein Wort, das mit Geburt, und
Stamm, Sippe zu tun hat. Mit der Geburt ist sie festgelegt, die Heimat, ohne
meinen Einfluss. Ein Plural existiert grammatisch, wird aber kaum je verwendet,
auch wenn zu Zeiten deutscher Auswanderung von alter und neuer Heimat
gesprochen wurde. So war es lange, so ist es im kollektiven Verständnis der Mehrheitsgesellschaft
noch immer verankert. Erst seit Kurzem steht in Deutschland geborenen Kindern
ausländischer Eltern unter Umständen die deutsche Staatsbürgerschaft zu. Der
Stamm, die Abstammung wiegt noch immer schwerer als der Ort und erlaubt den
Ureinwohnern, Anderen ihre Heimatgefühle abzusprechen. Doppelte
Staatsbürgerschaften sollen weiterhin nur in Ausnahmefällen erlaubt sein, auch
wenn dies die Wirklichkeit vieler Menschen, mehrere Heimaten zu haben, adäquat
abbilden würde.
Denn Heimat ist mehr als ein Ort, Heimat ist
Zugehörigkeit. Zugehörigkeit zu Menschen, zu Landschaft, zu einer Atmosphäre, ausgedrückt
in Sprache, Musik, einem Duft, einem nicht-nachdenken-Müssen. Das kann ein
Mensch an mehr als einem Ort haben, auch an einem, wo er vielleicht nicht
geboren ist. Da ich bis zu Studienbeginn nie umgezogen bin, habe ich diese Erfahrung erstmals durch den Schüleraustausch gemacht und in Lettland auch viel über die Schwierigkeiten neuer Freiheiten gelernt. Erst im 20. Jahrhundert entstand ein freies Lettland, einmal zwischen den Kriegen und nun seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Musik erhielt die lettische Kultur durch die Jahrhunderte der Fremdherrschaft und wird nun alle fünf Jahre mit Zehntausenden Sängern gefeiert.
Berlin, der riesige Ausstellungsraum, gedenkt in diesem
runden Gedenkjahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Zerstörung der
Vielfalt, die die Stadt zur Weltmetropole der 1920er Jahre gemacht hatte.
Künstler, Opernsängerinnen, Schauspieler, Schriftstellerinnen wurden aus ihrer
Heimat geschnitten. Ich bin dankbar und froh, dass heute, nach so einer
überschaubar kurzen Zeit und einer so erstaunlichen friedlichen Wiedervereinigung, schon eine neue große Vielfalt entstanden ist und
wieder viele verschiedene Menschen hier Heimat finden, dass ich hier z.B.
selbstverständlich in drei Sprachen arbeite und eine weitere täglich höre. Und
auch dafür, dass mein Gefühl, meine Gegenwart und meine rechtliche Situation
deckungsgleich sind. Meine Heimat ist Deutschland, Norddeutschland, Ahrensburg
bei Hamburg. Und auch meine Unistadt Greifswald und in Lettland, wo ich Austauschschülerin war und eine zweite Familie habe. All diese Orte existieren
und ich kann sie ohne Visum erreichen und wiedererkennen.
Teil der Ausstellung "Zerstörte Vielfalt"
Ich denke an meinen vorigen Besuch in Berlin: Kurz vor
Silvester habe ich im Postbahnhof die Randgruppencombo Lieder von Gerhard Gundermann
spielen hören, zusammen mit Mariella und einer Menge anderer
Leute, die jedes Lied Wort für Wort mitsingen konnten. Viele von ihnen teilen
die Erfahrung des Lausitzer Musikers, der leider schon seit 15 Jahren tot ist.
Er hat seine Heimat geliebt und er hat sich mit ihr gestritten und schließlich
ist sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Einen kleinen Einblick in seine
Lieder gibt es im anderen Post.
Als das Praktikum in Berlin zuende geht, hat die Stadt angefangen, ein bisschen Heimat zu werden: Ich fühle mich schon am Bahnhof willkommen
und am richtigen Platz, als ich wenig später wieder dort bin, um eine Freundin zu besuchen – im September werde ich meine
Reise bei ihr in Aserbaidschan abschließen – und um das aserbaidschanische Visum zu
beantragen. In der Botschaft sind nur wenige andere Antragsteller. Azeris, die
durch ihre Einbürgerung in Deutschland nun immer ein Visum beantragen müssen,
wenn sie ihre Familie in der alten Heimat besuchen wollen.
Am nächsten Tag fahre ich mit dem Regionalexpress in
meine alte Heimat, hier bedenke ich die ehemalige Grenze nur noch kurz, ich habe
mich daran gewöhnt... Am Mittwoch auf dem Wochenmarkt freue ich mich über die
Norddeutsch sprechenden älteren Leute. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich das
in Berlin vermisst hätte, so ist das oft, Heimweh habe ich kaum. Doch jetzt laufe
ich grinsend durch die Gegend, weil um mich herum das r gerollt und die Wörter
breit gezogen werden. Mein zweites Praktikum beginnt, in einer Kinderarztpraxis
in Hamburg Wilhelmsburg. Die fachliche Heimat wird hier schnell wieder ein
bisschen infrage gestellt. Wirklich Psychiatrie oder doch lieber mit den Kleinen
anfangen…? Fachlich hab ich mich noch nicht endgültig niedergelassen.
Blick auf Hamburg von der S-Bahn nach Wilhelmsburg
Die Fähigkeit, schnell überall zu Hause zu sein, beschert
auch viele Fragen, zwingt zum Nachdenken
darüber, welche Entscheidungen anstehen und wie diese zu fällen sind und „manchmal
ist mir das ganze zwischen den Stühlen n bisschen zuviel/ und ich betrachte
mich selbst mit gemischten Gefühlen“, wie Samy Deluxe es ausdrückt. Der
Hamburger Rapper, der von seinem sudanesischen Vater nicht nur mit seinem
anderen Aussehen alleingelassen wurde, hat auf seiner Suche viele Texte
geschrieben, die Deutschland und deutsche Sprache als heutige Heimat
verschiedenster Menschen sehr treffend beschreiben und den störrischen alten
Begriff für die Zukunft öffnen, denn Dis is wo er herkommt.
Für mich selbst haben sich viele dieser Fragen erst durch
die Perspektiven der erwähnten Musiker und vieler anderer Menschen und vor
allem auch durch das Leben an anderen Orten und durch Reisen entwickelt, denn
meine erste Heimat hat mir mein Leben leicht gemacht. Die Fragen stellen sich mir
nicht unausweichlich, aber ich werde lebendiger, wenn ich sie suche – und manchmal
auch zu Antworten komme. Der Wechsel zwischen meinen Heimaten, die Musik, die
mich mit ihnen verbindet, und die Freiheit, immer dorthin zurückzukehren und
dort frei zu leben, geben mir auch die Möglichkeit, mich jetzt wieder auf eine
weite Reise zu machen. In der Hoffnung auf neue Fragen, andere Antworten und
der Gewissheit, noch mehr in der Welt zu Hause zu sein, in meiner Heimat und
anderer Menschen Heimaten.
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